Eine weihnachtliche Geschichte: Wie jedes Jahr sollte auch in diesem Jahr die sechste Klasse das weihnachtliche Krippenspiel aufführen. Mitte November begann Lehrer Larssen mit den Vorbereitungen.
Thomas, der für sein Alter hoch aufgeschossen war und als Ältester von vier Geschwistern häufig ein ernstes Betragen an den Tag legte, sollte den Joseph spielen. Tinchen, die lange Zöpfe hatte und veilchenblaue Augen, wurde einstimmig zur Maria gewählt, und so ging es weiter, bis alle Rollen verteilt waren, bis auf die des engherzigen Wirts, der Maria und Joseph von seiner Tür verweisen sollte. Es war kein Junge mehr übrig. Die beiden Schülerinnen, die ohne Rollen ausgegangen waren, zogen es vor, sich für wichtige Arbeiten hinter der Bühne zu melden.
Joseph, alias Thomas, hatte den rettenden Einfall. Sein kleiner Bruder würde durchaus in der Lage sein, diese unbedeutende Rolle zu übernehmen, für die ja nicht mehr zu lernen war als ein einziger Satz, nämlich im rechten Augenblick zu sagen, dass kein Zimmer frei sei. Also erschien Thomas zur nächsten Probe mit Tim an der Hand, der keinerlei Furcht zeigte. Er wollte den Wirt spielen. Mit Wirten hatte er gute Erfahrungen gemacht, wenn die Familie in den Ferien verreiste. Er bekam eine blaue Mütze auf den Kopf und eine Latzschürze umgebunden; die Herberge selbst war, wie alle anderen Kulissen, noch nicht fertig. Tim Stand also mitten auf der leeren Bühne, und es fiel ihm leicht zu sagen, nein, er habe nichts, als Joseph ihn drehbuchtgetreu nach einem Zimmer fragte. Wenige Tage darauf legte Tim sich mit Masern ins Bett, und es war ein reines Glück, dass er zum Aufführungstag gerade noch rechtzeitig wieder auf die Beine kam.
In der Schule herrschten Hektik und Feststimmung, als er mit seinem großen Bruder eine Stunde vor Beginn der Weihnachtsfeier erschien. Auf der Bühne hinter dem zugezogenen Vorhang blieb er überwältigt vor der Attrappe seiner Herberge stehen: sie hatte ein vorstehendes Dach, eine aufgemalte Laterne und ein Fenster, das sich aufklappen ließ.
Die Vorstellung begann, Joseph und Maria betraten die Bühne, wanderten schleppenden Schrittes zur Herberge und klopften an. Die Fensterläden öffneten sich und heraus schaute Tim unter seiner großen Wirtsmütze. „Habt ihr ein Zimmer frei?” fragte Joseph mit milder Stimme. „Ja, gerne", antwortete Tim freundlich.
Schweigen breitete sich aus im Saal und erst recht auf der Bühne. Joseph versuchte vergeblich irgendwo zwischen den Kulissen Lehrer Larssen mit einem Hilfezeichen zu entdecken. Maria blickte auf ihre Schuhe. „Ich glaube, Sie lügen", entrang es sich schließlich aus Josephs Mund. Die Antwort aus der Herberge war ein unüberhörbares „Nein".
Dass die Vorstellung dennoch weiterging, war Josephs Geistesgegenwart zu verdanken. Nach einer weiteren Schrecksekunde nahm er Maria an der Hand und wanderte ungeachtet des Angebotes weiter zum Stall. Hinter der Bühne waren inzwischen alle mit dem kleinen Tim beschäftigt. Tim erklärte, dass Joseph eine so traurige Stimme gehabt hätte, da hatte er nicht Nein sagen können, und zu Hause hätten sie auch immer Platz für alle, notfalls auf der Luftmatratze.
Herr Larssen zeigte Mitgefühl und Verständnis. Dies sei doch eine Geschichte, erklärte er, und die müsse man genau so spielen, wie sie aufgeschrieben sei - oder würde Tim zum Beispiel seiner Mutter erlauben, dasselbe Märchen einmal so und dann wieder ganz anders zu erzählen, etwa mit einem lieben Wolf und einem bösen Rotkäppchen? Nein, das wollte Tim nicht, und bei der nächsten Aufführung wollte er sich Mühe geben, ein böser Wirt zu sein.
Die zweite Aufführung fand im Gemeindesaal der Kirche statt. Unter ärgsten Androhungen hatte Thomas seinem kleinen Bruder eingebläut, dieses Mal auf Josephs Anfrage mit einem klaren „Nein” zu antworten. Der große Saal war voll bis zum letzten Sitzplatz. Dann ging der Vorhang auf, das heilige Paar erschien und wanderte - wie es aussah etwas zögerlich - auf die Herberge zu. Joseph klopfte an die Läden, aber alles blieb still, Er pochte erneut, aber sie öffneten sich nicht. Maria entrang sich ein Schluchzen.
Schließlich rief Joseph mit lauter Stimme „Hier ist wohl kein Zimmer frei?“ In die Stille, in der man eine Nadel hätte fallen hören, ertönte ein leises, aber deutliches „Doch“.
Für die dritte und letzte Aufführung des Krippenspiels in diesem Jahr wurde Tim seiner Rolle als böser Wirt enthoben. Er bekam Stoffflügel und wurde zu den Engeln im Stall versetzt. Sein „Halleluja” war unüberhörbar, und es bestand kein Zweifel, dass er endlich am richtigen Platz war.
Ruth Schmidt-Mumm